Grundgedanke und Ausgangspunkt der ersten Förderphase

Kulturen und Gesellschaften gehen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Erfahrungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten in unterschiedlicher Weise mit existenziellen Herausforderungen um. In den letzten Jahren haben Aufstände und Bürgerkriege, Natur- und Atomkatastrophen, die massiven Erschütterungen auf den globalen Finanzmärkten sowie die Flüchtlingskrise mit Nachdruck vor Augen geführt, dass es zu den Anforderungen der heutigen Gesellschaft zählt, auf Veränderungen flexibel zu reagieren, neue Wissens- und Gestaltungsformen zu erproben und auf diese Weise die eigene Existenz zu sichern. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen verändert haben, ist dieses Phänomen als solches keineswegs neu: Im Laufe der Geschichte hat es immer wieder Zeiten gegeben, in denen die gewohnte Ordnung für die Menschen in einer besonderen Weise aus dem Gleichgewicht zu geraten schien.

Die Forschungsgruppe, in ihrer ersten Förderphase (01.07.2016–30.06.2019) bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der Mediävistik (aus den Disziplinen Geschichte, Rechtsgeschichte und Germanistik) und der Soziologie, setzte an diesem Punkt an. In bewusster Überschreitung epochaler und disziplinärer Grenzen rückte sie die Frage in den Mittelpunkt, was Akteure und soziale Einheiten dazu in die Lage versetzt, auf existenzgefährdende Umbrüche oder Herausforderungen produktiv zu reagieren (siehe ausführlich das Interview von Clemens und Endreß im UniJournal, S. 20-24).

Ein für die Gegenwart in vergleichender Perspektive besonders geeignetes Beobachtungsfeld für eine auf Umbruchskonstellationen ausgerichtete Analyse ist die Zeit ab ca. 1250, das Spätmittelalter, in dem sich unterschiedliche Disruptionserfahrungen mit einer Erweiterung der Denk- und Handlungsoptionen verbanden. Die regional und zeitlich unterschiedlich auftretenden demographischen, wirtschaftlich-sozialen, politischen, kirchlichen, religiösen und kulturellen Umbrüche werden als Phänomene eines europaweiten Wandels begriffen. Im Kontrast zu diesem Deutungsmuster widmet sich die jüngere Forschung, die – nicht zuletzt im Zuge der Untersuchung klimatischer Gegebenheiten – um eine Neubewertung bemüht ist, hingegen verstärkt der zeitgenössischen Wahrnehmung und betont die Anpassungsleistungen der Jahrhunderte nach 1250 in Religion, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Ausgangspunkt der Forschungsgruppe war in der ersten Förderphase die Annahme, dass das Resilienzkonzept, das angesichts einer von Umbrüchen gekennzeichneten und als besonders krisenhaft gedeuteten Gegenwart im Wissenschaftsdiskurs und in den gesellschaftlichen Debatten ‚Karriere‘ macht, in besonderem Maße zu einem Vergleich mit den – gemeinhin als Spätmittelalter und Beginn der frühen Neuzeit etikettierten – Jahrhunderten nach ca. 1250 herausfordert. Dabei ging die Forschungsgruppe von der Erwartung aus, in epochenübergreifend angelegten Untersuchungen der Zeit von ca. 1250 bis ca. 1600 das analytische Potential des auf disruptive Ereignisse und Umbruchsituationen zugeschnittenen Resilienzkonzepts in historisch komparativer Perspektive zu erschließen und auf diese Weise den beteiligten Fächern innovative, zukunftsweisende Sichtweisen zu eröffnen.

 

Ziel und projektübergreifende Leitfragen der ersten Förderphase

Ziel der Forschungsgruppe in der ersten Förderphase war es, in einer innovativen und bislang einzigartigen Weise Typologien zu entwickeln, welche Prozesse von Resilienz, ihre Dauer, ihre zeitliche Schichtung, die dabei beobachtbaren Handlungsoptionen der beteiligten Akteure (ihre Resilienzstrategien und -dispositionen) und die in diesen Prozessen eingesetzten ideellen und materiellen Ressourcen zu erfassen.

An der Forschungsarbeit beteiligten sich in der ersten Förderphase sechs Projekte aus der Soziologie und der Mediävistik, vertreten durch die Fächer Ältere Deutsche Philologie, Rechtsgeschichte und Mittelalterliche Geschichte (zu den Projekten der ersten Förderphase).

Die Untersuchungen folgten in den Projekten drei übergreifenden Leitfragen:

 

  1. Welche Ideen von Bewältigung, Anpassung oder Transformation ermöglichen es welchen Akteuren, welche sozialen Einheiten über bestandsgefährdende Umbrüche hinweg zu stabilisieren, zu tradieren oder langfristig transformierend zu erhalten?
  2. Welche sozio-politischen, sozio-ökonomischen oder sozio-kulturellen Ressourcen erweisen sich als förderlich für die produktive Verarbeitung erfahrener oder ex post rekonstruierter disruptiver Ereignisse?
  3. Welche Nebenfolgen haben Resilienzprozesse in welchen zeitlichen Zyklen für Bestand und Wandel unmittelbar oder nur mittelbar von diesen betroffenen sozialen Einheiten?

 

Einblicke in die projektübergreifenden Erträge der ersten Förderphase  

Für die Arbeit der Forschungsgruppe in der ersten Förderphase kann resümiert werden, dass mit der Resilienzanalytik eine überaus reichhaltige und produktive Heuristik zur Untersuchung nichtlinearer sozio-historischer Prozesse in interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Mediävistik und Soziologie identifiziert und (weiter-)entwickelt wurde. Im Fokus stand dabei insbesondere die Übertragung sozialökologischer Resilienzmodelle auf sozio-historische Konstellationen und ihre Bewährung in den empirischen Projekten der Forschungsgruppe.

Bezüglich der analytischen Erträge aber auch der dabei identifizierten Herausforderungen, die in der zweiten Förderphase adressiert und bearbeitet werden, lässt sich zusammenfassen:

 

  • Quelle:
    Raford 2010 (http://noahraford.com/?p=648);
    Holling 1987: 145; Gunderson/Holling 2002: 34

    Der Resilienzansatz im Allgemeinen wie die resilienzanalytischen Modelle des Adaptive Cycle und der Panarchy (siehe rechts) im Besonderen konnten für die Untersuchung sozio-historischer nichtlinearer Prozesse fruchtbar gemacht werden und erwiesen sich bei der Analyse dieser Prozesse – insbesondere in ihrer Verknüpfung – als weiterführend. Es konnte gezeigt werden, dass Phänomene von Kontinuität und Diskontinuität keineswegs als sich ausschließende Gegensätze verstanden werden müssen, sondern erst durch ihre Verknüpfung ein klareres Verständnis zahlreicher komplexer sozio-historischer Prozesse möglich wird. Die von der Forschungsgruppe weiterentwickelten resilienzanalytischen Konzepte und Modelle erwiesen sich dabei vor allem durch die enge Verknüpfung von Fragen der Prozessualität und der (Mehrebenen-)Relationalität als überaus produktiv.

  • Ein systematischer Zugang zu Resilienzprozessen wurde durch die typologische Differenzierung von Bewältigungs-, Anpassungs- und Transformationspotentialen ermöglicht. Mit dieser Differenzierung fokussierte die Forschungsgruppe insbesondere die dialektische Verschränkung von Phänomenen von Kontinuität und Diskontinuität, die in der zweiten Förderphase noch intensiver untersucht wird.
  • Bei der Übertragung und Weiterentwicklung resilienzanalytischer Konzepte und Modelle erwies sich die von der Forschungsgruppe eingenommene sozialkonstruktive Perspektive als zentrales Element, um Engführungen des sozialökologischen Diskurses zu vermeiden. Mithilfe dieser Perspektive konnten zeitgenössische Wahrnehmungen von disruptiven Phänomenen und Umschlags- und Beschleunigungspunkten ebenso wie Interpretationen und Zuschreibungsprozesse von Resilienzstrategien, Resilienzdispositionen und Resilienzressourcen produktiv rekonstruiert werden. Entsprechend wird diese Perspektive auch in der zweiten Förderphase eingenommen und noch weiter verstärkt.
  • Die typologische Differenzierung von Resilienzstrategien, Resilienzdispositionen und Resilienzressourcen ermöglichte es der Forschungsgruppe, handlungs- und strukturtheoretische Perspektiven zu verknüpfen und so die jeweiligen analytischen Engführungen der beiden klassischen Resilienzdiskurse – (Entwicklungs-)Psychologie einerseits, Sozialökologie andererseits – zu vermeiden. Mit Blick auf die Wirkung von Resilienzstrategien, Resilienzdispositionen und Resilienzressourcen über verschiedene, panarchisch zu verstehende analytische Ebenen hinweg erwies sich vor allem die Untersuchung von Nebenfolgendynamiken als hilfreich.
  • Die interdisziplinäre Zusammenstellung der Forschungsgruppe und der damit ermöglichte intensive Dialog zwischen Mediävistik und Soziologie bewährten sich in vielfacher Hinsicht für die theoretische Entwicklung und empirische Überprüfung des Resilienzansatzes im Kontext sozio-historischer Prozesse. So ermöglichten es die jeweiligen Schwerpunkte der Projekte auf Resilienzstrategien, Resilienzdispositionen und/oder Resilienzressourcen ausgehend von der die Forschungsgruppe anleitenden sozialkonstruktiven Perspektive unterschiedliche Blickwinkel auf Resilienzprozesse einzunehmen und diese in der Gesamtschau typologisch zusammenzuführen.

 

Weitere Informationen zum Forschungsprogramm und den Projekten der zweiten Förderphase.